Es gibt eine Müdigkeit, die still ist. Eine Müdigkeit, die sich nicht in Krankheitstagen zeigt, nicht im Krankenschein, nicht in dramatischen Zusammenbrüchen, sondern in den feinen Rissen eines Alltags, der zu lange keinen Platz für das Menschliche gelassen hat. Diese Müdigkeit betrifft Mütter, pflegende Angehörige, Krankenpfleger, Lehrerinnen, Erzieher, Sozialarbeiterinnen, all jene, deren Arbeit selten gefeiert, aber ständig gebraucht wird. Menschen, die Verantwortung tragen, ohne Pausen, ohne Publikum, ohne Anerkennung. Die Philosophin Hannah Arendt sagte: „Wir verlieren uns nicht durch die Arbeit, sondern durch das Vergessen unserer selbst in ihr.“ Genau dieses Vergessen ist in unserer Gegenwart kein individuelles Phänomen, sondern ein gesellschaftliches.
Die historische Wurzel der Unsichtbarkeit
Care-Arbeit war über Jahrhunderte die unsichtbare Architektur des sozialen Lebens. In vormodernen Gesellschaften galt Fürsorge als häusliche Aufgabe, „natürlich“ weiblich, nicht ökonomisch relevant. Sie war notwendig, aber sie war nie Prestige. In der Industrialisierung verschärfte sich diese Trennung: Produktion wurde bezahlt, Fürsorge vorausgesetzt. Männer arbeiteten sichtbar, Frauen unsichtbar. Das 20. Jahrhundert brachte zwar rechtliche Schritte zur Gleichstellung, aber die kulturelle Logik blieb bestehen: Was Sorge trägt, gilt als privat. Was Gewinn trägt, gilt als gesellschaftlich wichtig.
Diese Historie wirkt bis heute nach. Sie erklärt, warum eine Altenpflegerin als „engagiert“ gilt, aber selten als systemrelevant bezeichnet wurde, bis eine Pandemie uns daran erinnerte… Sie erklärt, warum Mütter noch immer gefragt werden, ob sie „wieder arbeiten“, obwohl sie nie aufgehört haben zu arbeiten und sie erklärt, warum pflegende Angehörige die größte Pflegekraft des Landes bilden still, unbezahlbar und unbezahlt.
Zahlen, die eine Geschichte erzählen
Die Hans-Böckler-Stiftung schätzt, dass in Deutschland jährlich rund 90 Milliarden Stunden unbezahlte Care-Arbeit geleistet werden, deutlich mehr als alle bezahlten Arbeitsstunden zusammen. Pflegende Angehörige erbringen 50 Prozent der gesamten Pflegeleistung im Land. Laut WHO leiden Menschen in Care-Berufen oder familiären Pflegeaufgaben mehr als doppelt so häufig an Burnout-Symptomen. Eine Studie der Barmer Krankenkasse zeigt, dass Eltern kleiner Kinder bis zu 70 Prozent häufiger unter chronischer Erschöpfung leiden. Das sind keine individuellen Schwächen. Das sind gesellschaftliche Muster.
Was diese Last im Körper auslöst – der Blick der Psycho-Neuro-Immunologie
Der Körper unterscheidet nicht zwischen äußerem Stress und innerer Verantwortung. Für ihn zählt nur eins: Er muss funktionieren. Die Psycho-Neuro-Immunologie (PNI) zeigt, wie eng Psyche, Nerven- und Immunsystem miteinander verwoben sind. Dauerbelastung aktiviert das Stresssystem chronisch, ein Zustand, den man Allostase nennt: Der Organismus passt sich an ständige Anforderungen an, doch der Preis dafür ist hoch. Cortisol bleibt dauerhaft erhöht, Schlafstörungen, Gereiztheit, geschwächtes Immunsystem. Das sympathische Nervensystem (Alarmmodus) dominiert: Herzrasen, Unruhe, Spannungsschmerzen. Emotionale Regulationsfähigkeit sinkt, Reizbarkeit, Wut, Schuldgefühle, innere Leere. Entzündungsmarker steigen: Erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen, Depressionen, Müdigkeitssyndrome. Die Allostatic Load (Belastungsniveau) wächst, der Körper verliert die Fähigkeit, in echte Regeneration zurückzufinden. Der Neurobiologe Gerald Hüther beschreibt es so: „Ein Mensch kann viel tragen, aber nicht dauerhaft in einem Zustand, für den er biologisch nie vorgesehen war.“
Die neue Normalität der Erschöpfung
Das Problem ist nicht, dass Menschen müde sind. Das Problem ist, dass ihre Müdigkeit als normal gilt. Die Soziologin Eva Illouz spricht von einer „gesellschaftlichen Erschöpfungskultur“. Care-Arbeit wird romantisiert, als Liebe, als Pflicht, als Charakterstärke. Doch was romantisiert wird, wird selten geschützt. So passiert es, dass ein Vater, der seine demenzkranke Mutter pflegt, am Rande zusammenbricht, aber sagt: „Ich mache das doch gern.“ Oder dass eine Kita-Erzieherin abends zitternd auf dem Sofa sitzt, weil ihr Nervensystem den Tag nicht verarbeitet hat, aber am nächsten Morgen wieder lächelt. Oder dass eine Mutter, die nachts drei Stunden schläft und tagsüber Mental Load, Haushalt, Bindungsarbeit und Beruf jongliert, glaubt, sie müsse sich nur „besser organisieren“. Die Müdigkeit ist nicht das Problem. Die Schuld, die wir daraus machen, ist es.
Warum wir nicht darüber sprechen
Die Gründe sind alt und tief: Scham, die Sorge, als schwach zu gelten. Vergleich, die Illusion, dass andere es besser schaffen. Kulturelle Prägung, wer sorgt, darf nicht klagen. Internalisierte Erwartungen, Ich muss das können. Unwissen, viele erkennen ihre Symptome nicht als Belastung. Die Psychologin Brené Brown sagt: „Erschöpfung ist kein Ehrenabzeichen.“ Doch wir behandeln sie, als wäre sie eins.
Ein System, das auf Grenzenlosen ruht
Unsere Gesellschaft lebt von jenen, die emotional, körperlich und organisatorisch tragen, in Familien, in Pflegeberufen, in Bildungseinrichtungen, in sozialen Räumen. Doch diese Arbeit ist unsichtbar in Statistiken, unterbewertet in Löhnen und unterschätzt in politischer Gestaltung. Wir befinden uns in einem Widerspruch: Wir erwarten Menschlichkeit, aber wir haben Strukturen gebaut, die sie nicht schützen.
Wie Veränderung beginnen kann
Veränderung beginnt nicht mit Optimierung, nicht mit Selbstoptimierung, nicht mit dem x-ten Ratgeber für Achtsamkeit, sondern mit gesellschaftlicher Ehrlichkeit. Veränderung beginnt mit dem Eingeständnis, dass Care-Arbeit eine Ressource ist, keine Selbstverständlichkeit, sie beginnt mit der Anerkennung, dass Grenzen nicht Schwäche bedeuten, sondern Würde, mit politischer Gestaltung, die Menschen entlastet, statt sie zu idealisieren und mit Räumen, in denen Erschöpfung sagbar wird. Vielleicht beginnt alles mit diesem einen einfachen Satz: „Es ist zu viel!“ Das ist kein Rückzug, das ist ein Akt von Wahrheit und Wahrheit ist der erste Schritt aus der Unsichtbarkeit in die Würdigung.
Was bleibt
Vielleicht brauchen wir eine neue Kultur: eine Kultur, die Menschen, die tragen, nicht erst dann ehrt, wenn sie zusammenbrechen. Vielleicht brauchen wir eine Kultur, die versteht, dass Fürsorge nicht weich ist, sondern eine gesellschaftliche Kraft, eine Kultur, die begreift, dass das Nervensystem nicht verhandelt, es reagiert. Vielleicht brauchen wir eine Kultur, die sagt: Diejenigen, die die Welt zusammenhalten, verdienen mehr als ein Dankeschön, sie verdienen mehr als ein Klatschen, sie verdienen Ruhe, Strukturen, Schutz und Sichtbarkeit. Denn eine Gesellschaft, die jene schützt, die sie tragen, ist eine Gesellschaft, die wirklich menschlich ist.